Die französische Philosophie im 18. Jahrhundert.
Dühren, Studien I. Der Marquis de Sade.
2. Die französische Philosophie im 18. Jahrhundert.
In der Philosophie stellt sich der Geist eines Zeitalters am reinsten und bestimmtesten dar. So war auch die französische Philosophie gleichsam der wissenschaftliche Ausdruck für den Egoismus, die Genusssucht und die Geschlechtslust jener Zeit. Sie war durchweg s e n s u a l i s t i s c h und m a t e r i a l i s t i s c h gerichtet. Sehr drastisch lässt S a d e die Dubois sagen (Justine I, 122): „Das Element der Philosophie ist der Geschlechtsgenuss!“
Die Philosophie spielt in den Werken S a d e s eine grosse Rolle. Sehr häufig kehrt der Ausspruch wieder; „Das Feuer der Leidenschaft wird stets an der Fackel der Philosophie entzündet“ (z. B. Juliette I, 92, 158, 319 u. s. w.). Einen sehr grossen Teil der Bücher S a d e s nehmen langatmige philosophische Exkurse ein, die wir in einem späteren Abschnitt zu würdigen haben. Dabei verfährt S a d e sehr eklektisch und unkritisch.
Er nennt er z.B. in einem Atem Spinoza, Vanini und Holbach, den Verfasser des „Système de la Naturé“ (Juliette I, 31). Dann Buffon (Philosophie dans le Boudoir I, 77), welcher doch den Versuch einer Milderung des starren Materialismus macht. Die Namen von Voltaire, Montesquieu dürfen natürlich auch nicht fehlen. An Rousseaus Ideen klingt der Ausdruck an: „Die Menschen sind nur rein im natürlichen Zustande, sobald sie sich daraus entfernen, erniedrigen sie sich“ (Juliette IV,242).
Den grössten Einfluss scheint La Mettrie auf Sade ausgeübt zu haben. Wenigstens erscheint uns das philosophische System des Marquis de Sade, wenn man den eklektischen Mischmasch als solchen bezeichnen darf, mit Vorliebe Gedanken La Mettries zum Ausdruck zu bringen. Beide suchen die Legitimation und Erhöhung des Geschlechtsgenusses in der philosophischen Analyse. Hierbei wird La Mettrie ausdrücklich erwähnt (Juliette III 211). Als Philosoph ist entschieden La Mettrie den Ideen Sades am nächsten gekommen.
Montesquieu und Voltaire hatten die sensualistische Philosophie Lockes in Frankreich bekannt gemacht, wo schon der Skeptizismus Pierre Bayles die Philosophie dem christlichen Glauben als das Höhere und Wahrere entgegengestellt hatte. Während bei den englischen Philosophen, sowie bei Voltaire und Montesquieu die sensualistischen Anschauungen nur theoretisch entwickelt wurden, der Sensualismus wesentlich Erkenntnislehre blieb, machten sich bald Bestrebungen geltend, den Sensualismus und seine natürliche Konsequenz, den Materialismus, auf das praktische Gebiet zu übertragen. Die Erkenntnis ist eine Funktion der Sinne.
Die Grundlage der Moral ist das eigene Wohl, der Egoismus. Ewig ist nur die Bewegung, die aus sich selbst alle Dinge hervorbringt und keines Schöpfers bedarf. Freier Wille und Unsterblichkeit der Seele, sowie der Gottesbegriff sind daher Utopien. Die Materie ist das einzig Sichere. Eine Seele gibt es nicht. Der Atheismus ist die einzige Religion, die in der Anbetung der Natur, im glücklichen Leben und physischen Genuss ihre Befriedigung findet.
Aus diesen vorzüglich von La Mettrie und Holbach formulierten Sätzen ergab sich das, was die französische Philosophie des 18. Jahrhunderts besonders charakterisiert, ihre Opposition gegen Kirche und Religion, ihr Eintreten für die Freiheit des einzelnen Individuums. Niemals ist die Philosophie mit solcher Energie auf alle Lebensverhältnisse angewendet worden, mit bewusster Tendenz, diese umzugestalten, wie im 18. Jahrhundert. Die französische Revolution war vor allem ein Werk der Philosophen; und das hat man schon frühzeitig erkannt.
So sagt Barruel, ein fanatischer Verteidiger des ancien régime *): „Diese Revolution wurde seit langer Zeit von Menschen geplant, welche unter dem Namen von Philosophen sich in die Rolle geteilt hatten, Thron und Altar zu stürzen.“
*) „Histoire du clergé pendant la révolution française“ par l’Abbé Barruel, London 1793 S. 2—3.
Es gab daher politische und religiöse Philosophen, Der Hauptrepräsentant der politischen Philosophie ist Mirabeau, der leidenschaftliche Anwalt des dritten Standes. Er tat aber auch den berühmten Ausspruch: „Wenn Ihr eine Revolution wollt, so müsst ihr zuerst Frankreich entkatholisieren.“ (Si vous voulez une révolution, il faut commencer par décatholiciser la France).
Wie sehr der Atheismus eines La Mettrie und Holbach 1) ins Volk gedrungen war, beweist folgender von Dutard erzählte wirkliche Vorfall 2): Drei Priester kehrten von einer traurigen Amtsverrichtung zurück. Der Vordere stiess mit dem silbernen Kreuz an einem beladenen Lastträger, der mit einem unbeladenen Kameraden daher schritt. „Nanu!“ rief der Gestossene, „du da, pack dich mit deinem Kreuz.“— „St!“ sprach sein Kamerad, „es ist ja der gute Gott!“ — „Ach was, der gute Gott!“ versetzte jener, „es gibt keinen guten Gott mehr!“ — Man schritt daher konsequenterweise zu praktischer Ausführung dessen, was der Marquis de Sade als Einer von Vielen in seinen Werken immer und immer wieder predigt, zur Abschaffung der verhassten Religion.
1) Nach Barruel a. a. O. S. 4 hatte sogar Cérutti, der eine Apologie des Jesuitismus schrieb, sterbend geäussert: Le seul regret que j’emporte en mourant, c’est de laisser encore une religion sur la terre.
2) A. Schmidt a. a, O. Bd. III 1876 S. 229.
In der Sitzung des Konvents vom 17. November 1793 sagt Cloots, dass die Religion das grösste Hindernis der Glückseligkeit sei. Es gäbe keinen anderen Gott als die Natur, keinen anderen Herrn als das Menschengeschlecht, der Gott des Volkes, die Vernunft müsse alle Menschen vereinigen. — Feierlich schwor am 7. November 1793 im Schosse des Konventes der Bischof Gobel mit einem Häuflein seiner Geistlichkeit den katholischen Kultus und das Christentum ab. Die priesterlichen Mitglieder des Konventes folgten sofort seinem Beispiel.
Am 10. November wurde dann in der Kirche Notre-Dame der seltsame Kultus der Vernunft eingeweiht. Die Vernunft wurde Fleisch in Gestalt einer schönen jungen Frau, die der Präsident des Konventes mit dem Bruderkuss umarmte. „So wurde die abstrakte Vernunft zur sinnlichen Göttin gestempelt, die Göttin zum Menschenweib degradiert und die Gottheit zu einer Vielheit von menschlichen Göttinnen oder Gottweibern gestaltet.“ Man sieht also, dass der Atheismus, der bei Sade oft abschreckende Formen annimmt, nichts ihm Eigentümliches ist, sondern jener Zeit gemäss war. Man sieht ferner, wie schliesslich dieses ganze atheistische Gebaren auf den geschlechtlichen Genuss hinausläuft, der in der Revolutionszeit wahrhaft ungeheuerliche Dimensionen annahm.
Die „Vernunft“, deren Kultus aufgerichtet wurde, d. h. die Philosophie, hatte ihn längst verherrlicht. So erwähnt Sade (Juliette IV, 198) La Mettries Schrift „Sur la volupté“, womit wahrscheinlich die „L’art de jouir“ (1751) gemeint ist. Hier entwickelt La Mettrie die Regeln für den Genuss der physischen Liebe, die er als das Schönste und Begehrenswerteste auf der Welt preist, wobei er die Befriedigung aller „caprices de l’imagination“ für geheiligt erklärt.
Die Philosophie, in welcher die geistige Bewegung jener Zeit ihren allgemeinsten und intensivsten Ausdruck fand, kämpfte für politische, religiöse und moralische Freiheit. Sie richtete sich gegen Staat, Kirche und konventionelles Herkommen. Alle diese Faktoren macht auch der Marquis de Sade zum Gegenstand seiner heftigsten Angriffe. Wir gehen daher über zur Untersuchung der einzelnen konkreten Verhältnisse in Staat, Kirche, Literatur und öffentlichem Leben, insofern dieselben zur Erklärung der Persönlichkeit und der Werke des Marquis de Sade beizutragen vermögen.
Quelle: Iwan Bloch als Eugen Dühren. Der Marquis de Sade und seine Zeit. Ein Beitrag zur Kultur- und Sittengeschichte des 18. Jahrhunderts. Mit besonderer Beziehung auf die Lehre von der Psychopathia sexualis. 1. Aufl. Barsdorf, Berlin 1900; Max von Harrwitz, Berlin 1904; 5. Aufl. Barsdorf, Berlin 1915; in Reihe: Studien zur Geschichte des menschlichen Geschlechtslebens, Bd. 1. Inges. 7 Aufl. zu Lebzeiten.
Bild: Illustrierte Sittengeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart von Eduard Fuchs (1870-1940). München: A. Langen, 1909.
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