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Allgemeiner Charakter des 18. Jahrhunderts in Frankreich.

Dühren, Studien I. Der Marquis de Sade

1. Allgemeiner Charakter des 18. Jahrhunderts in Frankreich.

Sade nennt (Justine I, S. 2) das 18. Jahrhundert „le siècle absolument corrompu“ und lässt an einer anderen Stelle (Juliette I, 261) den Noirceuil sagen, dass es gefährlich sei „in einem verderbten Jahrhundert tugendhaft sein zu wollen“. Ihm wie anderen drängte sich also das Bewusstsein der allgemeinen Schlechtigkeit in jener Zeit zur Genüge auf. Den treffendsten Ausdruck für alle Verhältnisse dieser Epoche hat Hegel gefunden.

Frontispiz, Justine, Marquis de Sade,
Frontispiz von Justine

Er sagt in seiner „Philosophie der Geschichte‘ *); „Der ganze Zustand Frankreichs in der damaligen Zeit ist ein wüstes Aggregat von Privilegien gegen alle Gedanken und Vernunft überhaupt, ein unsinniger Zustand, womit zugleich die höchste Verdorbenheit der Sitten, des Geistes verbunden ist, — ein Reich des Unrechts, welches mit dem beginnenden Bewusstsein desselben schamloses Unrecht wird“. Sind nicht Sades Werke ein getreuer Spiegel dieser Zeit des Unrechts? Auch sie predigen das Unrecht und verraten doch überall Spuren des Bewusstseins dieses Unrechts. Ist das „Glück des Lasters“, sind die „Verbrechen der Liebe“ nicht schamloses Unrecht?

*) Schasler, „Populäre Gedanken aua Hegels Werken“ Berlin 1870 S. 213.

Das 18. Jahrhundert gehört zu jenen frivolen Zeitaltern, deren Wesen ein bedeutender Schüler Hegels, Kuno Fischer, in vollendeter Weise geschildert hat. *) Frivole Zeiten sind jene, die immer ein ablaufendes Weltalter beschliessen und das Leben der Menschheit völlig zersetzen, damit es ganz von neuem wieder anfangen könne. Fichte nannte es einst die vollendete Sündhaftigkeit.

*) K. Fischer „Diotima. Die Idee des Schönen“. Stuttgart 1852. S. 67 ff.

„In allen grossen Wendepunkten der Geschichte gleichen sich die Züge der verschiedenen Zeiten; sie sind abgespannt von dem alten Tagewerke und sehen so welk und ohnmächtig aus, dass man an einem neuen verzweifeln möchte. Und in der Tat, wenn sich ein Weltalter völlig abgelebt hat, so bleibt von seinem sittlichen Leben nur noch das körperliche übrig, und dieses bedarf künstlicher Reize von aussen, um erregt zu werden, da ihm die innere Kraft fehlt, die es in jugendlicher Frische hervorbringt. Es ist ein ungebundenes und doch mattes Leben, es sind fessellose und doch abgestumpfte Kräfte, die das Drama des Lebens vollbringen, ohne irgend einen sittlichen Verstand in ihm darzustellen. Es gibt keine Natur, es gibt keine Bildung in diesen Zeiten, überall nur die Prosa der Selbstsucht ohne ihre Kraft, die Ohnmacht des Genusses ohne seine Poesie“.

Die Welt der Cäsaren, die Zeit des ausgelebten Papsttums, das französische Königtum vor der Revolution sind solche Perioden. Jene zweite war die vollendete Sündhaftigkeit des Katholizismus, diese letzte ist die vollendete Sündhaftigkeit des Königtums.

Faune, Nymphen, Kupferstich, Demarteau Caresme, Frankreich, Rococo,
Faune und Nymphen. Galanter französischer Kupferstich von Demarteau nach Caresme. Um 1770

Der Genuss à tout prix ist die Parole im 18. Jahrhundert. Der Mensch aber, der um jeden Preis geniessen will, ist der Egoist. Niemals war in Frankreich der Egoismus so gross wie unter dem ancien régime und während der Revolution.

Der Minister Saint-Fond, eine getreue Kopie eines Ministers unter Ludwig XV. sagt (Juliette II, 37): „Der Staatsmann würde ein Narr sein, der nicht das Land für seine Vergnügungen bezahlen liesse. Was geht uns das Elend der Völker an, wenn nur unsere Leidenschaften befriedigt werden? Wenn ich glaubte, dass Gold aus den Adern der Menschen fliessen würde, dann würde ich einen nach dem anderen zur Ader lassen, um mich mit diesem Blut zu füttern“.

Diese Äusserung findet S a d e charakteristisch für das ancien régime. 1) Vor der Revolution war dieser Egoismus nur bei den herrschenden Ständen, bei Königtum, Adel und Geistlichkeit zu Tage getreten.

In der Revolution ergriff er alle Schichten der Bevölkerung. Adolf Schmidt, der seine Schilderung der Revolutionszeit aus authentischen, zeitgenössischen Dokumenten schöpft, sagt darüber 2): „Das war der scharf ausgeprägte Egoismus, die Selbstsucht und Habgier, die nicht nur die höheren Schichten der Gesellschaft, sondern alle Klassen des Volks und vornehmlich den an Zahl weit überwiegenden Bauernstand durchdrang, ja dermassen beherrschte, dass darüber alle anderen Empfindungen, auch der Vaterlandsliebe und der Menschlichkeit weit zurücktraten. Es gereicht zum Erstaunen und zum Entsetzen, wenn man wahrnimmt, wie während der ganzen Revolutionszeit, und mitten unter den glänzendsten Deklamationen über Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, über Menschenrechte und Menschenliebe, über Aufopferung für Wohl, Grösse und Ruhm des Vaterlandes, in fast allen Schichten ein Wettrennen um Hab‘ und Gut, eine kalte Berechnung zur Ausnutzung der Umstände, ein gieriges Spekulieren auf das Unglück des Staats und auf das Elend der Mitmenschen massgebend war und blieb. Jeder wollte den anderen übervorteilen und überlisten; jeder wollte im Trüben fischen, wollte persönlich sein Glück machen, sich bereichern und emporkommen“.

1) a. a. O.: „Les voilà, les voilà, les monstres de l’ancien régime? Nous ne les avons pas promis beaux, mais vrais, nous tenons parole“.
2) Adolf Schmidt „Pariser Zustände während der Revolutionszeit 1789—1800″. Bd. I. Jena 1874 S. 19.

Ebenso spricht der berühmte M e r c i e r, der Cicerone Schopenhauers bei dessen Aufenthalt in Paris, von diesem „siècle d’égoisme renforcé“ 1). Wir werden diesen Egoismus, diesen Hauptcharakterzug des 18. Jahrhunderts in seinen verschiedenen Formen zu studieren haben.

Der Egoismus zeitigt die Genusssucht, die Genusssucht gipfelt aber in der geschlechtlichen Lust. Das achtzehnte Jahrhundert ist das Jahrhundert der zum System erhobenen geschlechtlichen Lust. Moreau 2) unterscheidet drei Epochen in der Geschichte der geschlechtlichen Ausschweifungen und Verirrungen. Die erste ist die Epoche der römischen Kaiserzeit, die zweite umfasst jene grossen Epidemien „de névropathie de toutes sortes“ im Mittelalter, besonders den Glauben an die Existenz des Incubus und Succubus, den Kult der sogenannten „Satanskirche“ mit seinen ungeheuerlichen geschlechtlichen Monstrositäten. Die dritte Periode fällt in das 18. Jahrhundert, hell erleuchtet in ihrer ganzen spezifisch französischen Eigenart durch die Saturnalien der Regentschaft und des fünfzehnten Ludwig.

1) L. S. Mercier „Le nouveau Paris“. Band IV. Paris 1800. S. 190.
2) Paul Moreau (de Tours) „Des aberrations du sens génésique“ 4. ed. Paris 1887. S. 13.

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La Voluptueuse. Die Wollüstige. Galanter Kupferstich nach J. B. Greuze

„Wollust! das ist das Wort des achtzehnten Jahrhunderts, schreiben die besten Kenner dieser Zeit, Edmond und Jules de Goncourt. *) Das ist sein Geheimnis, sein Reiz, seine Seele. Es atmet Wollust und macht sie frei. Die Wollust ist die Luft, von der es sich nährt und welche es belebt. Sie ist seine Atmosphäre und sein Atem, sein Element seine Inspiration, sein Leben und sein Genie. Sie zirkuliert in seinem Herzen, seinen Adern und seinem Kopfe. Sie gibt seinem Geschmack, seinen Gewohnheiten, seinen Sitten und seinen Werken einen eigenen Reiz. Die Wollust geht aus dem innersten Wesen dieser Zeit hervor, sie redet aus ihrem Munde.

*) Edmond et Jules de Goncourt „La femme au dix-huitième siècle“. Paris 1898. S. 151.

Sie fliegt über diese Welt dahin, nimmt sie in Besitz, ist ihre Fee, ihre Muse, das Bestimmende ihrer Moden, der Stil ihrer Kunst. Und nichts ist von dieser Zeit übrig geblieben, nichts hat dies Jahrhundert der Frau überlebt, was nicht von der Wollust geschaffen, berührt und bewahrt wurde, wie eine Reliquie der göttlichen Gnade in dem Dufte des Genusses.“

Was das französische achtzehnte Jahrhundert vor allen übrigen auszeichnet und in dieser Art weder vorher noch nachher da war, das ist die Systematisierung der geschlechtlichen Liebe. Diesem Jahrhundert blieb es Vorbehalten, einen Codex der Immoralität aufzustellen. Das ganze Leben zielt auf den Geschlechtsakt ab, Wissenschaft, Kunst, die Konversation, die Gastronomie. Alles durchdringt der erschlaffende Hauch der rein physischen Liebe und hinterlässt jenen schweren Duft, welcher alle geistige Energie lähmt. Und als diese sich erhob in der grossen glorreichen und unvergesslichen Revolution, welche die neue Zeit geboren hat, da hing ihr jener schwere Duft noch an, zog sie wieder herab und knechtete sie und verkehrte die heftig angespannte in wilde Grausamkeit und erbarmungslosen Blutdurst.

Haben wir also als die Hauptcharaktere dieses Jahrhunderts des Unrechts den Egoismus und die geschlechtliche Unsittlichkeit nachgewiesen, welche allgemeinen Züge in dem Leben und den Werken des Marquis de Sade aufs höchste gesteigert, uns ebenfalls entgegentreten, so liegt uns nunmehr ob, immer in Beziehung auf die Persönlichkeit Sades die Ursachen jener Frivolität näher zu ergründen, zu erforschen, aus welchen Faktoren jene allgemeinen Charaktere des Jahrhunderts sich zusammensetzen.

Quelle:

Iwan Bloch als Eugen Dühren. Der Marquis de Sade und seine Zeit. Ein Beitrag zur Kultur- und Sittengeschichte des 18. Jahrhunderts. Mit besonderer Beziehung auf die Lehre von der Psychopathia sexualis. 1. Aufl. Barsdorf, Berlin 1900; Max von Harrwitz, Berlin 1904. Aufl. Barsdorf, Berlin 1900; Max von Harrwitz, Berlin 1904; 5. Aufl. Barsdorf, Berlin 1915; in Reihe: Studien zur Geschichte des menschlichen Geschlechtslebens, Bd. 1. Inges. 7 Aufl. zu Lebzeiten. Royal College of Physicians of Edinburgh.

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