Schamanismus in Sibirien. Burjatischer Schamane.
Schamanismus in Sibirien: Tradition, Spiritualität und Ethnologie.
Schamanismus
Der Begriff „Schamanismus“ leitet sich vom tungusischen Wort „šaman“ ab, was so viel wie „derjenige, der weiß“ bedeutet und bezeichnet eine spirituelle Praxis, bei der der Schamane als Vermittler zwischen der physischen und der spirituellen Welt fungiert. Diese Praktiken sind in Sibirien tief verwurzelt und haben sich über Jahrtausende hinweg entwickelt.
Ethnien
Geografisch erstreckt sich Sibirien über den größten Teil des nördlichen Asiens und umfasst ein weites Gebiet voller unterschiedlicher ethnischer und kultureller Gruppen. Jede dieser Gruppen hat ihre eigenen, einzigartigen schamanistischen Traditionen und Rituale entwickelt. Zu den bekanntesten indigenen Völkern in dieser Region gehören die Jakuten, Ewenken, Burjaten und Nenzen. Diese Gruppen teilen gemeinsame Elemente in ihrer schamanistischen Praxis, weisen aber auch signifikante Unterschiede auf, die ihre kulturelle Identität prägen.
Burjatische Frauen (oben) und Männer (unten), Provinz Irkutsk. Die Irkutsker Burjaten sind sesshafte Landwirte, die den westlichen burjatischen Dialekt sprechen. Ein kleiner Teil betrachtet jedoch Russisch als seine Muttersprache.
Peoples of Asiatic Russia von Waldemar Jochelson
Sibirien
Die geografische Isolation und die extremen klimatischen Bedingungen Sibiriens haben wesentlich zur Entwicklung und Bewahrung dieser schamanistischen Traditionen beigetragen. In der sibirischen Gesellschaft spielt der Schamanismus eine zentrale Rolle im täglichen Leben und in der Gemeinschaft. Schamanen sind nicht nur geistige Führer, sondern auch Heiler, Geschichtenerzähler und Bewahrer der kulturellen Identität ihres Volkes. Ihre Rituale und Zeremonien sind tief in den Glaubenssystemen und der Mythologie der indigenen Völker verankert. Die Rolle des Schamanen, die verwendeten Rituale und die spirituellen Überzeugungen sind eng mit den natürlichen Gegebenheiten und der historischen Entwicklung der Region verbunden.
Traditionelle Praktiken und Rituale
Im sibirischen Schamanismus spielen traditionelle Praktiken und Rituale eine zentrale Rolle im spirituellen und sozialen Leben der Gemeinschaft. Der Schamane, oft als Vermittler zwischen der physischen und der spirituellen Welt angesehen, übernimmt wichtige Funktionen innerhalb der Gesellschaft. Die Schamanen führen verschiedene Rituale durch, die von Heilungszeremonien über Geisterbeschwörungen bis hin zu Initiationsritualen reichen.
Ein herausragendes Merkmal dieser Rituale ist die Verwendung von Trommeln, Kleidern und anderen Ritualgegenständen. Die Trommel, oft aus Tierhaut gefertigt, dient als primäres Werkzeug, um in Trance zu geraten und mit den Geistern zu kommunizieren. Der rhythmische Klang der Trommel wird als Tor zu anderen Welten angesehen und unterstützt den Schamanen bei der Konzentration und dem Eintreten in veränderte Bewusstseinszustände.
Kleidung
Die Kleidung des Schamanen ist ebenfalls von großer Bedeutung. Traditionell tragen Schamanen spezielle Gewänder, die mit Symbolen und Ornamenten versehen sind. Diese Symbole repräsentieren verschiedene Geister, Tiere und Naturkräfte, die in der schamanistischen Weltanschauung eine Rolle spielen. Zudem werden oft Kopfbedeckungen und Masken verwendet, die den Schamanen während der Rituale in die Gestalt eines bestimmten Geistes oder Tieres versetzen.
Heilungszeremonien, Geisterbeschwörungen
sind weitere wichtige Praktiken. Bei Geisterbeschwörungen ruft der Schamane Geister an, um Rat oder Unterstützung zu erhalten.
Initiationsrituale
markieren den Übergang eines Individuums in eine neue Lebensphase oder seine Aufnahme in den Kreis der Schamanen. Diese Rituale sind oft komplex und beinhalten mehrere Tage der Vorbereitung und Durchführung. Sie verdeutlichen die enge Verbindung zwischen Mensch, Natur und den spirituellen Kräften, die das Leben der Gemeinschaft prägen.
Spirituelle Weltanschauung und Kosmologie
Die spirituelle Weltanschauung des sibirischen Schamanismus ist tief verwurzelt in einer komplexen Kosmologie, die die Beziehungen zwischen der natürlichen Welt, den Geistern und den Ahnen betont. Schamanen verstehen das Universum als ein lebendiges Netzwerk, in dem jede Komponente – seien es Menschen, Tiere, Pflanzen oder geographische Merkmale – eine spirituelle Bedeutung besitzt. In dieser Weltanschauung spielen Geister und Naturkräfte eine zentrale Rolle. Sie werden oft als Vermittler zwischen der physischen und der spirituellen Welt betrachtet.
Geister
sind in der Kosmologie des sibirischen Schamanismus allgegenwärtig und agieren als Hüter der Natur und der Lebewesen. Ahnengeister, die verstorbenen Vorfahren, sind besonders wichtig und werden respektiert und verehrt. Sie gelten als weise Berater und Beschützer, die das Wohl ihrer Nachkommen beeinflussen können. Diese spirituellen Beziehungen sind nicht nur individuell, sondern auch gemeinschaftlich von Bedeutung, da sie die soziale und kulturelle Kohärenz der Gemeinschaft stärken.
Das Konzept der Seele
Ein weiteres zentrales Element ist das Konzept der Seele. Im sibirischen Schamanismus wird angenommen, dass jeder Mensch mehrere Seelen besitzt, die verschiedene Aspekte der Existenz beeinflussen. Diese Seelen können während Trancezuständen oder schamanistischen Reisen den Körper verlassen und in andere Welten eintreten. Die Vorstellung der Wiedergeburt ist ebenfalls präsent; es wird geglaubt, dass Seelen nach dem Tod wiedergeboren werden, oft innerhalb derselben Gemeinschaft oder Familie.
Spirituelle Reisen, die den Schamanen in andere Welten führen, sind ein wesentlicher Bestandteil ihrer Praxis. Diese Reisen dienen dazu, Heilung zu bringen, Wissen zu erlangen oder die Balance zwischen den Welten wiederherzustellen. Heiligtümer und besondere Naturphänomene, wie Berge, Flüsse und Bäume, gelten als kraftvolle Orte, die den Zugang zur spirituellen Welt erleichtern. Diese heiligen Orte sind oft Schauplätze von Ritualen und Zeremonien und werden mit großer Ehrfurcht behandelt.
Die spirituelle Weltanschauung und Kosmologie des sibirischen Schamanismus bieten einen tiefen Einblick in die Verbundenheit von Mensch, Natur und Geist. Sie verdeutlichen, wie diese alten Traditionen eine ganzheitliche Sicht auf das Universum fördern und die spirituelle Dimension des Lebens betonen.
Ethnologische Perspektiven und moderne Entwicklungen
Der Schamanismus in Sibirien bietet aus ethnologischer Sicht ein faszinierendes Untersuchungsfeld, das tief in die Kultur und Geschichte der sibirischen Völker eingebettet ist. Historische Ereignisse wie die Sowjetzeit haben tiefgreifende Auswirkungen auf die schamanistischen Traditionen hinterlassen. Während dieser Periode wurden viele schamanistische Praktiken unterdrückt und als abergläubisch oder rückständig angesehen, was zu einem Rückgang dieser Traditionen führte. Trotz dieser Herausforderungen haben sich einige Praktiken jedoch im Verborgenen gehalten und sind in jüngster Zeit wiederaufgelebt.
Mit der modernen Globalisierung hat der Schamanismus in Sibirien eine neue Dynamik erfahren. Einerseits führt die zunehmende Vernetzung der Welt zu einem stärkeren kulturellen Austausch, der auch die schamanistischen Praktiken beeinflusst. Auf der anderen Seite gibt es Bestrebungen, diese Praktiken vor dem Verlust zu bewahren. Viele Gemeinschaften bemühen sich aktiv darum, ihre schamanistischen Traditionen zu erhalten und sie an jüngere Generationen weiterzugeben. Dabei spielen ethnologische Studien eine entscheidende Rolle. Durch die Dokumentation und Analyse schamanistischer Praktiken tragen Ethnologen dazu bei, das Verständnis und die Wertschätzung dieser Traditionen zu fördern.
In der heutigen Zeit zeigt sich der sibirische Schamanismus in einer spannenden Mischung aus Bewahrung und Anpassung. Einige Praktiken haben sich mit modernen Elementen vermischt und neue Formen angenommen. Gleichzeitig gibt es eine verstärkte Hinwendung zur Authentizität, bei der traditionelle Rituale und Glaubensvorstellungen wiederbelebt werden. Dieser Prozess wird durch zahlreiche ethnologische Forschungen unterstützt, die nicht nur das Wissen über den Schamanismus erweitern, sondern auch dazu beitragen, seine Bedeutung in der modernen Welt zu unterstreichen.
Burjatischer Schamane, Provinz Irkutsk.
Die Burjaten
leben in zwei Provinzen Ostsibiriens: Transbaikalien und Irkutsk. Die Burjaten in der Provinz Irkutsk sind weitaus stärker russifiziert als die Burjaten in Transbaikalien, haben aber ihren alten schamanistischen Glauben und ihre Praktiken beibehalten.
Die transbaikalischen Burjaten führen ein nomadisches oder halbnomadisches Leben als Viehzüchter, auch wenn die Kenntnisse in der Landwirtschaft gegenwärtig zunehmen. Ihre Sprache ist ein östlicher Dialekt des Burjatischen, der Mongol-Burjatisch genannt wird und mit dem mongolischen Dialekt der Chalkas verwandt ist. Nur 5,2 % dieser transbaikalischen Burjaten wurden als russischsprachig registriert.
Die Burjaten in der Provinz Irkutsk zählen 110.745 (57.905 Männer; 52.840 Frauen laut Volkszählung von 1897). Ihre Religion ist schamanistisch. Sie sind in höherem Maße russifiziert als ihre transbaikalischen Verwandten. Die meisten von ihnen sind zu Landwirten geworden und leben jetzt mit den russischen Siedlern zusammen. Sie machen 21,5 Prozent der Gesamtbevölkerung der Provinz aus. An den Ufern der Flüsse Uda und Goloustnaya, die in den Baikalsee münden, und des Flusses Oka leben sie in kompakteren Siedlungen. Sie bilden den Großteil der Bevölkerung im südlichen Teil des Bezirks Verkholensk.
Die Irkutsker Burjaten sprechen den westlichen oder so genannten Barga-Buryat-Dialekt. Zwölfeinhalb Prozent (13.858) der Irkutsker Burjaten betrachten Russisch als ihre Muttersprache.
Quelle: Peoples of Asiatic Russia von Waldemar Jochelson (1855-1937). Amerikanisches Museum für Naturgeschichte, 1928.
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