Napoleon. Aus dem Tagebuch von Friedrich Rochlitz.
NAPOLEON 1813. AUS DEM TAGEBUCH DER LEIPZIGER SCHLACHT VON FRIEDRICH ROCHLITZ.
16. Oktober.
NAPOLEON war in der Stadt gar nicht verweilt, sondern gleich hinaus zu den Seinen geritten. Kaum eine Viertelstunde weit zum Grimmaischen Tore hinaus, mithin Wolkwitz als Hauptpunkt auf offenem Felde und nahe an der Straße. Hierher war ein kleiner Tisch aus einem Landhause gestellt, ein Stuhl dahinter, ein loderndes Wachfeuer daneben. Eine Charte, die man – es war rauhes, stürmisches Wetter – auf den Tisch genagelt, ein kleiner Tubus, meist in seiner Hand: das war Napoleons ganzer Apparat. Niemand war behindert, nach Gefallen so nahe zu treten, daß man nur nicht gerade ihm im Wege war. Als er hinausritt, sahe er finster, verschlossen, gewissermaßen starr aus: da nur aber erst die Kanonen mächtiger donnerten, öffnete sich gleichsam das verschlossene Gesicht, er ward gesprächig, beweglich; seine Miene blieb nur herrisch ernst, nicht mürrisch, und änderte sich nun, auch im Laufe des lebhaften Gesprächs, fast so wenig als die Miene einer Maske. Dies Feststehende, ich möchte sagen Gefrorne, zusammen mit dem Unruhigen, Hastigen, etwas Eckigen seiner Bewegungen, hatte etwas – soll ichs Über- oder Unmenschliches nennen? Kurz, etwas, daß einem ganz unheimlich, fast grauenvoll dabei ward; und kann ich nicht bestimmen, inwieweit diese Empfindung unmittelbare Folge des Eindrucks, oder inwieweit dieser erst von eigner Phantasie zugekocht sein mochte.
Napoleon saß – auch wenn er die Charte befragte über einen Punkt, worauf er den Finger legte, sprach, schrieb usw. – nie länger als etwa zwei Minuten; dann richtete er sich hastig wieder empor und ging auf und nieder. Alexander Berthier war immer an seiner Seite. Mit kältestem Stolz und erdrückender Gleichgültigkeit behandelte er mehrere der vornehmen Herren, die sonst, und oft weit unerträglicher als er, uns despotisierten und die nun in gänzlich resignierender Ehrfurcht etwas dumm dastanden. Adjutanten, und auch andere Offiziere, ohne deren Abzeichen, flogen von allen Seiten unaufhörlich herbei: alle wurden direkt an ihn verwiesen. Er nahm ihre Papiere, lief sie blitzschnell durch, schrieb, oder gab mündlich im Augenblick Antwort; die letzte meist gegen Berthier hin, der dann, wie es schien, seine kurze Entscheidung den Männern weiter auseinandersetzte; zuweilen winkte er auch diese nahe zu sich, fragte, fertigte ohne Zwischenreden ab usw. Sein Gang traf einige mal so, daß er Trupps Verwundeter, die, zum Teil in jämmerlichem Zustande, auf der Straße nach der Stadt gebracht wurden, ganz sicher erkennen mußte; er wendete weder den Schritt noch den Blick um; die Sache war ihm völlig gleichgültig. – –
18. Oktober
Herr***, der auf einige Minuten vom Rathaus zu den Seinigen eilte, brachte die Botschaft: unser König habe nochmals die Stadt den verbündeten Monarchen zur Schonung empfohlen, und es sei Antwort gekommen, man werde schonen, soweit es die Operationen irgend zuließen; nur möchte man sorgen, daß die abziehenden Franzosen nicht anzündeten oder sonst verwüsteten. (Sie haben gestern wirklich die Lazarette, nachdem sie sie ausgeplündert, wobei auch die kostbaren Sammlungen chirurgischer oder anderer Instrumente verloren gegangen und die meisten der nicht mehr transportabeln Franzosen umgekommen sind – in Brand gesteckt. So ist Pfaffendorf in Feuer aufgegangen; so wäre es dem Place de repos usw. ohne schleunige Hilfe ergangen.) –
Kaum hatte ich diesen halben oder Viertelstrost vernommen, als ich in der Klostergasse Napoleon mit großer Begleitung seiner Garde vorüberreiten sah. Er war im schlechten, kotbesprützten Überrock; sein Gesicht (ich stand ganz nahe, um es zu erkennen) war weder verlegen noch verwegen, noch auch sonst beunruhigt, sondern in der starren, scheue Ehrerbietung erzeugenden Kälte, die oft an ihm vor entscheidenden Momenten, eben wenns in ihm kocht und sprudelt, bemerkt worden ist. Murat und Poniatowski waren glänzend geschmückt; die andern schimmernden Herren zu erkennen war nicht Zeit. Nur der despotische Weichling, der uns so vielfach gequält, fiel mir noch in die Augen. Er sah bleich aus, und flach, und ohngefähr wie nichts. Sie ritten nach mehreren Toren, zunächst nach dem Peterstor und dessen Pforte am Floßgraben.
Wollte Napoleon die Anstalten nochmals überblicken? oder der Seinen Mut neu entflammen? oder über den Punkt, auf welchem zu entkommen, sicher werden? oder – da er dies wohl war – über denselben irreleiten? oder alles das zugleich? Jeder Posten seiner Soldaten empfing ihn mit Jubelgeschrei: in den Straßen ward kein Laut gehört. (Man will ihn noch nach 11 Uhr in der Stadt gesehen haben; ich weiß das nicht: aber nach 10 Uhr sah ich ihn selbst nochmals.) Hierauf saß er am Markte, vor unsers Königs Hause, ab und ging mit Murat hinauf. Sein Besuch dauerte vielleicht eine halbe Stunde. Aus der Nachbarschaft konnte man ihn bemerken, wie er, indes sich Murat mit der Königin auf dem Sofa besprach, mit dem Könige im Erker redete. Die Bewegungen seiner Hände waren hastig und bezeichnend: seine Miene und übrige Haltung gefaßt und anständig. Er sprach viel, und fast immerfort. Der König stand in seiner gewohnten stillen Würde; er schien wenig und nur Bedeutendes zu sagen: dies glaubte man aus Napoleons Achtsamkeit und Miene lesen zu können. –
Von dem, wie er hernach entkommen, erfahren wir nichts Sicheres, als daß man ihn durch die jetzt versumpften Wiesen gegen Lindenau setzen gesehn; aber auch in Richters Garten soll er mit einem Trupp seiner Vertrautem gewesen sein. Gewiß ist, daß Poniatowski und Macdonald, die seinen Rückzug zu decken gehabt, dort, als sie ihre Pflicht erfüllt, durch die Elster gesetzt haben, so hoch und steil auch eben da ihre Ufer sind. Poniatowski soll bei diesem Wagestück ertrunken sein. Das alles wird sich bald aufklären und berichtigen. Nur das hab ich von einem Manne, der unmittelbar dabei tätig sein mußte:
Gegen die Mittagsstunde, eben als das österreichische Heer auf der dortigen Landstraße in die Stadt drang, kam Napoleon mit den Seinen nach Lindenau, hielt an der Mühle, die hart an der Straße stehet, verweilete mehrere Minuten und aß, während im Dorfe von Franzosen – die Leute sagen „zum Plündern“ getrommelt ward. Es war wohl aber Sturmschlag, den der Österreicher nachzuahmen und sie, die eifrigst Vordringenden, hinter ihrem Rücken zu täuschen, als rückten neue Haufen der Ihrigen ihnen nach. Zum Plündern brauchte auch nicht erst auf gefordert zu werden: das geschah ohnehin; nur daß man wenig mehr fand.
Wie Napoleon weiter fortgekommen, weiß jetzt noch niemand. Manche meinen, da alle Zugänge zur Stadt so gänzlich in der Gewalt der Verbündeten gewesen, sei ihm absichtlich jener Ausweg offen gelassen worden, aus noch unbekannten Ursachen, zu noch unbekannten Absichten. Soviel ich erfahren, kommandierte eben dort, eben da, der Feldzeugmeister Giulay *).
*) Kaiserlich-österreichischer Feldmarschall-Leutnant Ignác Gyulay (1763–1831), Verbindungsoffizier zwischen der Schlesischen Armee Blüchers und der Hauptarmee Schwarzenbergs.
Johann Friedrich Rochlitz (12. Februar 1769 – 16. Dezember 1842) war ein deutscher Dramatiker, Musikwissenschaftler, Kunst- und Musikkritiker. Rochlitz studierte Theologie und Philosophie in Leipzig und gab ab 1799 die Allgemeine musikalische Zeitung heraus. Er war befreundet mit Goethe, Carl Maria von Weber, Schiller und E.T.A. Hoffmann sowie mit dem Komponisten Louis Spohr. Franz Schubert vertonte 1827 drei Gedichte von ihm. Nach ihm ist der Friedrich-Rochlitz-Preis für Kunstkritik benannt – er wird von der Leipziger Gesellschaft für Kunst und Kritik vergeben und wurde 2009 zum vierten Mal verliehen.
Quelle:
- Tage der Gefahr von Johann Friedrich Rochlitz (über die Völkerschlacht bei Leipzig 1813).
- Insel-Almanach Leipzig: Insel-Verlag 1906
- The Repository of arts, literature, commerce, manufactures, fashions and politics by Rudolph Ackermann. London: Published by R. Ackermann, Sherwood & Co. and Walker & Co. 1814.
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