Das Englmari-Suchen zu Sankt Englmar.
Das Englmari-Suchen
Ein Volksschauspiel zu Sankt Englmar im Bayerischen Wald.
Beitrag von Ludwig Fränkel aus: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 1894.
Zu den vielen gleichsam unter der Oberfläche in unzerstörbarer Frische und Schöne fortlebenden, uralten Volksschauspielen der süddeutschen Gebirgstäler, die erst neuerdings ihre berechtigte Beachtung finden, gehört dasjenige zu Sankt Englmar, im Bayrischen Wald. Es gelangte in diesem, zunächst des Hirschensteins und des Predigtstuhls in einem weiten, an grossartiger Naturromantik reichen Bergkessel 806 m hoch gelegenen Pfarrdorf 1) auch am jüngsten Fronleichnamsfest, 31. Mai 1894, wiederum in Verbindung mit der heiligen Prozession, an diesem Tag zur Aufführung.
Der bei der Bevölkerung, die stets viele Stunden weit, Alt und Jung, herbei eilt, übliche Name ist „das Englmari-Suchen“ (worin sich vielleicht eine irrige Volksetymologie verbirgt). Über den Inhalt der zu Grunde gelegten Volksüberlieferung sei Folgendes mitgeteilt: Der heilige Englmar (Engelmarus) lebte hier gegen Ende des elften Jahrhunderts als Einsiedler in der Wildnis und wurde von einem Dienstmann des Grafen von Bogen – dies Geschlecht ist noch jetzt die Herrenfamilie der Gegend – unverdienterweise erschlagen. Der Leichnam des frommen Mannes wurde bei Gelegenheit einer gräflichen Jagd entdeckt und in feierlichem Zuge auf einem ochsenbespannten Wagen fortgeschafft. Auf demselben Fleck, wo die jetzige (katholische) Pfarrkirche des Ortes steht, machte das Gefährt urplötzlich halt, woraus der Graf das Zeichen entnahm, dass daselbst der Leib des gottgefälligen Eremiten zur Ruhe bestattet werden solle. Und so geschah’s: es erhob sich bald ein Kirchlein und binnen kurzem rings herum das nach dem Ermordeten benannte Dorf.
Dessen Bewohner nun, sowie die Menschen der ziemlich weit ausgedehnten Pfarrgemeinde verleihen seit langer Zeit ihrer Verehrung für den Heiligen damit würdigen Ausdruck, dass sie der hergebrachten dramatischen Darstellung der Auffindung, Bergung und Bewahrung der Leiche mit ihren Angehörigen beiwohnen. Es erscheinen auf der ganz einfach eingerichteten Bühne in der Tracht des elften Jahrhunderts, wenn auch mit einiger stark moderner Verbrämung, der Graf von Bogen mit einem Prinzen und etlichen Knappen, seinem Burggeistlichen und dem Junggrafen, allesamt zu Pferd, der Prälat von Windberg nebst Gefolge, ein Jäger mit dem Leithund der Meute und zwei Knechte, die den mit zwei besonders kräftigen Ochsen bespannten grün angestrichenen Englmari-Wagen lenken. Der ganzen Gesellschaft voraus geht ein Engel mit goldglitzerndem Stabe. Die berittenen Männer und Jünglinge der Pfarrei kommen auf ihren besten prächtig gezierten Pferden von allen Seiten herbei und setzen sich zwei und zwei an die Spitze des Zuges; in diesem Jahr überstieg die Zahl der teilnehmenden Reiter das halbe Hundert.
Die Fronleichnamsprozession schliesst sich dem so gebildeten Zug unmittelbar an. Am Fusse des Hügels, wo eine aus Holz sauber geschnitzte Statue des heiligen Englmar unter einem Felsblock im Gebüsche versteckt ist, angelangt, verlässt der Engel seinen Platz, erklimmt den Felsen und zeigt mit hoch erhobener Rechten an, dass hier der Martyrer gefunden werde. Sogleich eilt der Jäger mit seinem Rüden nach der angedeuteten Stelle, schiebt die verhüllenden Tannenäste beiseite und holt den gesuchten Körper hervor. Dann begibt er sich spornstreichs zurück und verkündet es dem Grafen, der alsbald vom Pferd steigt und mit seiner Begleitung nach dem Fundorte geht, um sich daselbst auf die Knie zu werfen. Darauf erteilt er Auftrag, den Leichnam zum Wagen zu bringen und besteigt, nachdem dies geschehen ist, wieder sein Tier, worauf die Prozession ihren Fortgang nimmt, als ob nichts sie unterbrochen hätte. Nur wird die Statue des Heiligen mitgeführt, nach der Ankunft an der Pfarrkirche in diese unter feierlicher Zeremonie der sie geleitenden Personen der Handlung hineingeschafft und auf einer eigens dazu zugerüsteten Estrade niedergelegt.
Die unübertrieben paradiesischen Reize der Gegend scheinen leider auch schon der Spekulation an heim zu fallen, und damit dürfte wohl auch für die Ungezwungenheit und den ererbten Charakter des Englmari-Suchens das Schicksal besiegelt sein. Wenigstens berichtet ein genauer Kenner der Verhältnisse nach Abhaltung der diesjährigen Feier 2): „Die Vorführung dieses mittelalterlichen Spiels lockt jährlich mehrere Tausende von Fremden aus Fern und Nah heran, welche damit zugleich eine der herrlichsten Touren im bayerischen Waldgebirge verbinden: denn es dürfte wenige Plätze geben, die sich einer solch würzigen Luft erfreuen.
Die wundervolle Lage am Beginn eines von frischen Quellbächen durchzogenen, saftig grünen Tales und rings umgeben von herrlichsten Hochwaldungen, teilweise aber einen Ausblick gewährend auf die Donauebene und hin bis zum Hochgebirge, haben Englmar seit Jahren zu einem klimatischen Kurort gestempelt, dem eine grosse Zukunft gesichert sein dürfte.“
Da zufolge der Eigentümlichkeit des Volksschauspiels von Englmar die Pantomime den ganzen sich rasch abwickelnden Vorgang beherrscht und ein eigentlicher stereotyper Text der wenigen gesprochenen Teile gar nicht vorhanden zu sein scheint, wird es trotz der hohen Altertümlich- und Selbständigkeit wohl bald seine durch Jahrhunderte erhaltene Art einbüssen. Damit tritt dann ein Brauch aus der Welt, der bei aller religiösen Einkleidung doch etwa Reste heidnischer Natur-Anbetung gerettet haben mag.
Ludwig Fränkel.
1) Baedekers „Süddeutschland“ erwähnt in der letzten (59.), dem Bayerischen Wald gewidmeten Route neben dem Predigtstuhl zwar „am Fusse des letzteren in hübschem Tal das Pfarrdorf Englmar, aber nichts von dem Spiel.
2) Münchener Neueste Nachrichten vom 9. Juni 1894, Seite 9. Obige Mitteilungen bestätigt mir die alte aus der Gegend stammende Witwe Josefine Dietrich in München.
Quelle: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde. Herausgegeben von Karl Weinhold. Vierter Jahrgang 1894. Verlag von A. Asher & Co, Berlin.
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