Von der Entstehung der deutschen Volkstracht
Friedrich Hottenroth.
Unter Volkstracht versteht man eine eigene Art von Tracht, die mehr oder minder von der grossen Mode abweicht und nur in bestimmten Bezirken Geltung hat, also gleichsam einen Dialekt des Modekostüms bildet. Allgemein verbreitet ist der Glaube, unsere Volkstrachten seien uralt; dies ist ein Irrtum; auch die älteste geht nicht über die Mitte des 16. Jahrhunderts zurück; die meisten sind im Laufe des 17. entstanden und nicht wenige gehören dem 18. und selbst dem 19. Jahrhundert an.
Nur wenige Stücke sind alte Familienstücke und nur in einer einzigen Gegend, sonst aber nirgends zu finden. Im allgemeinen bildeten sich die Volkstrachten aus Resten von stehengebliebenen Moden (Trachten) heraus und gewannen dann ein um so seltsameres Aussehen, je weiter sich die allgemeine Mode von ihnen zeitlich entfernte. Aber wie man häufig noch an den Enkeln die Gesichtszüge der Ahnen erkennt, so lässt sich auch in der Volkstracht noch die zeitlich zurückliegende Mode erkennen, von welcher sie ihre einzelnen Stücke zurückbehalten hat.
Die Ausdehnung des Landes und der schwerfällige Verkehr waren schuld, dass in früheren Jahrhunderten die Mode nicht überall zu gleicher Zeit und auch nicht auf gleiche Weise durchdringen konnte. Aus diesem Grunde gab es wohl zu jeder Zeit Volkstrachten, die aber weiter nichts, als verspätete Modetrachten waren, und die man aufgab, sobald man der neuen Mode habhaft werden konnte. Die ganze Kultur im Mittelalter hatte einen internationalen Charakter; und so entwickelte sich auch die Tracht in den verschiedenen vom Christentum geprägten Ländern in ziemlich übereinstimmender Weise. Erst als nach dem Ende des Mittelalter eine politische politische Neuordnung begann und im speziellen Deutschland sich in hunderte von Territorien auflöste, von denen jedes sich als eigene Nation betrachtete, erst seit dieser Zeit sonderten sich die Deutschen mit Absicht, wie in so vielem andern, auch in der Kleidung von einander ab. Deutschland war das klassische Land der Kleinstaaterei und der Sicht auf die unmittelbare Umgebung und Belange. Da gab es nur Höfe und Hinterhöfchen von Fürsten, Grafen und Herren; da gab es nur Reichsritterschaften, Reichsstädte, Reichsdörfer, Reichsklöster; aber einen homogenen Staat Deutschland gab es lange nicht mehr.
Um diese Zeit fingen die eigentlichen Volkstrachten an sich zu entwickeln; sie waren ein naturgemässes Produkt der öffentlichen Zustände. Die abgelegenen Dörfer und einsamen Höfe begannen eher mit der Ablösung von der grossen Mode, als die verkehrsreichen Städte; und so kam es, dass die ländlichen Volkstrachten schon um die Mitte des 16. Jahrhunderts von der damals gültigen deutschen Mode sich absonderten, während die städtischen erst auf Grund der später folgenden spanischen Mode im Gefolge der Gegenreformation ins Leben traten.
Man darf indes nicht annehmen, die Volkstrachten seien, nachdem sie sich einmal gefestigt hatten, von der grossen Mode nicht mehr beeinflusst worden. Im Gegenteil; gerade die Mode war es, die den Volkstrachten frische Elemente zuführte und sie vor dem Erstarren bewahrte. Die Volkstrachten des 18. Jahrhunderts waren andere, wie die des 17., und die des 19. sind anders, wie die des 18. Jahrhunderts waren. Selbst wenn die Mode im Einzelnen nicht viel veränderte, so bestimmte sie doch das allgemeine Aussehen. Alles, was die Menschen tun, tun sie im Geiste der Zeit, in der sie leben und wirken, ob sie sich dessen bewusst sind oder nicht. Von jeder Zeitmode setzte sich ein Rest von Exemplaren in gewissen Gegenden fest. Da das Volk an den geistigen Kämpfen der Zeit wenig oder gar keinen Anteil nahm, veränderte sich auch die Tracht nur wenig oder doch sehr langsam. Ein Beispiel dafür liefert Altbayern, wo die Tracht noch heute Charakteristiken oder Stilelemente aufweist, die der Epoche des Barock des 17. Jahrhundert angehören und während des dreissigjährigen Krieges entstanden sind, wie den kurzen Rock und den spitzen Hut.
Anders in schwäbisch Bayern und im Schwabenlande überhaupt; hier wurde das Volk von den Umwälzungen des 18. Jahrhunderts stark beeinflusst; und so gehört auch heute noch seine Tracht vorwiegend diesem Zeitraume an; der lange Rock, die engen Kniehosen, die Schnallenschuhe mit Strümpfen und der Dreispitz sind charakteristische Belege dafür. Anders die Trachten der Pfalz; die Pfälzer wurden seit Jahrhunderten zwischen Frankreich und Deutschland hin- und her geworfen; sie lebten stets mitten im Schnittpunkt der politischen Ideen und eigneten sich einen revolutionären Geist an, der stets mit dem Neuen ging. Aus diesem Grunde kamen die Pfälzer niemals zu einer eigenen, alt gewachsenen Volkstracht; höchstens den elsässischen und badischen Grenzen entlang bürgerten sich Ansätze dazu ein; diese aber waren in der Tat elsässisch und badisch, aber nicht pfälzisch. Auch im Rheingau um Mainz bemerken wir etwas Ähnliches; hier ist jedoch nicht der Ideenverkehr und die Neugierde nach neuem in der Mode an dem Ausbleiben einer Volkstracht schuld, sondern das Patriziertum, das sich seit alten Zeiten in dieser Gegend entwickelt hatte. Auch gründeten sich die Unterschiede auf ethnologische Ursachen.
Das ganze östliche Deutschland jenseits der Elbe gründete auf dem Slawentum; die Slawen waren mit der Völkerwanderung in das germanische Land gekommen und hatten sich hier sesshaft gemacht. Die Grenze dieser alten Kultur verlief, im Süden beginnend, an der Salzach und Rednitz, dann der Saale und Elbe entlang über den Sachsenwald und endete bei Kiel. Erst im 13. Jahrhundert wanderten die Deutschen als Kolonisten in dieses von ihnen ehemals besiedelten Land zurück; sie kamen meist aus Bayern, Thüringen, Franken und Sachsen.
Diese Kolonisation oder auch Expansion nach Osten hatte viele Ursachen unter anderem eine große Bevölkerungszunahme, bedingt durch technische Fortschritte in der Landwirtschaft und damit höhere Erträge sowie einer längeren Wärmeperiode, die zurückkehrenden Kreuzritter des Deutschordens, (Deutsche Ostsiedlung) aus der bis dahin umkämpften Levante geschuldet, die nach der Aufgabe von Jerusalem und der Beendigung der Kreuzzüge mehr oder weniger eine neue Beschäftigung benötigten (Entstehung der späteren Gutsherrschaft der Junker Ostpreussens und Pommerns). Hinzu kamen die norddeutschen Hansestädte denen an einer Ausweitung und Absicherung ihres Handels mit Russland und Skandinavien die begehrten und strategisch wichtigen Häfen des Baltikums sich vor den nordischen Staaten zu sichern suchten. Man kann das an anderer Stelle vertiefend studieren (z.Bspl. unter Germania Slavica). Was von slawischen Kostümstücken in die dortige Volkstracht überging, war uralt; dazu gehörte vor allem das weibliche Kopftuch, das heute noch im östlichen Deutschland ebenso gut, wie in Bosnien und der Herzegowina gebräuchlich ist. Im westlichen Deutschland machte sich der niederländische Einfluss bemerkbar. Bis über die Mitte des 17. Jahrhunderts hinaus hatte sich die niederländische Tracht, die spanisch geworden, mit grosser Starrheit gegen die französische Mode behauptet; in Holland hatte der Verkehr auf der See manche kostümliche Eigenheiten erzeugt, die man sonst nicht kannte; beides wirkte zusammen, dem niederländischen Kostüm ein eigenartiges Gepräge zu geben. Es wanderte teils den Rhein hinauf nach Westdeutschland, andern teils den Küsten der Nordsee entlang in das norddeutsche Tiefland ein. Ihr augenfälligstes Stück war der Kopfmantel, die „Hoike“, die in Hamburg und Köln ebenso gut, wie in Amsterdam zu sehen war.
Die Kleidung in den Städten wurde so gut zur Volkstracht, wie die auf dem Lande, denn sie unterlag gleichermassen dem politischen Zeitgeiste. Doch ging sie ihre eigenen Wege und ahmte die ländlichen Trachten ebenso wenig nach, wie die Mode. Der religiösen Aufregung im 16. Jahrhundert folgte im 17. die Entspannung, und diese machte sich auf allen geistigen Gebieten bemerkbar. Die neue Lehre, die einen so hohen Flug genommen, verpuppte sich in Dogmen ähnliche Begriffe, die Gelehrsamkeit in Pedanterie, das öffentliche Leben in behäbiges Spiessbürgertum. Damals vollzog sich die Scheidung; jede grössere Stadt wurde zu einem eigenen Bildungszentrum und das Bürgertum jeder Stadt kehrte seine scharfkantige Individualität gegen Alles heraus, was seinen „Gerechtsamen“ zu nahe kam. Unterstützt wurde diese Absonderung durch den elenden politischen Zustand, in den Deutschland nach dem dreissigjährigen Kriege verfiel; man hatte keine Lust mehr, an den Welthändeln teilzunehmen, und auch kein Geld dazu; ja der grosse Geldmangel in allen Städten war vielleicht die Hauptursache, weshalb man sich in seine häuslichen Bezirke einspann und aus der Not eine Tugend machte. Die Absonderung wurde zur Gewohnheit; und weil immer eine Sache die andere bedingt, so verpuppte man sich auch in seine Tracht; die Tracht selbst wurde demgemäss einer Puppenhülse ähnlich und nahm starre geradlinige Formen und dunkle Farben an. Hamburg, Lübeck, Bremen, Frankfurt a. M., Nürnberg, Augsburg, Ulm: jede Stadt hatte ihr eigenartiges Kostüm, und nur die Steifheit und Düsternis war allen diesen Kostümen gemeinsam. Erst im 18. Jahrhundert fing der Bann allmählich zu weichen an. Wohl vererbten sich Reste des Altherkömmlichen noch weiter fort; aber sie vermischten sich mit neuen Stücken, welche die französische Mode brachte; es war kein eigentlicher Kampf, diese Umwandlung, sondern eine Auflösung, wie sie ebenmässig in den politischen Zuständen der deutschen Welt vor sich ging.
Quelle: Friedrich Hottenroth, 1898. Deutsche Volkstrachten, städtische und ländliche: vom XVI. Jahrhundert an bis zum Anfange des XIX. Jahrhunderts. Volkstrachten aus Süd- und Südwest-Deutschland. Frankfurt am Main: H. Keller, 1898-1902.
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